EuGH 25.3.2021 - Rs. C-501/18: Zum Anspruch des Einlegers auf Entschädigung auf Grund des Einlagensicherungssystems, zur Verpflichtung des nationalen Gerichts, eine Empfehlung der europäischen Bankenaufsichtsbehörde zu berücksichtigen, sowie zur Frage eines unverhältnismäßigen Eingriffs in die Ausübung des Eigentumsrechts der Einleger bei Anwendung einer Maßnahme zur Aussetzung von Zahlungen durch eine nationale Zentralbank auf ein Kreditinstitut als Sanierungsmaßnahme
1. Art. 7 Abs. 6 der Richtlinie 94/19/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 1994 über Einlagensicherungssysteme in der durch die Richtlinie 2009/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass der in dieser Vorschrift vorgesehene Anspruch des Einlegers auf Entschädigung nur die Auszahlung der nicht verfügbaren Einlagen dieses Einlegers durch das Einlagensicherungssystem bis zu der in Art. 7 Abs. 1a der Richtlinie 94/19 in der durch die Richtlinie 2009/14 geänderten Fassung festgelegten Höhe nach Feststellung der Nichtverfügbarkeit der von diesem Kreditinstitut verwalteten Einlagen durch die zuständige nationale Behörde gemäß Art. 1 Nr. 3 Ziff. i der Richtlinie 94/19 in der durch die Richtlinie 2009/14 geänderten Fassung umfasst, so dass Art. 7 Abs. 6 der Richtlinie 94/19 in der durch die Richtlinie 2009/14 geänderten Fassung keinen Anspruch auf Entschädigung zugunsten dieses Einlegers für einen Schaden begründen kann, der durch die verspätete Auszahlung des gesicherten Betrags seiner gesamten Einlagen oder durch eine unzureichende Aufsicht seitens der zuständigen nationalen Behörden über das Kreditinstitut, bei dem die Einlagen nicht mehr verfügbar sind, verursacht wurde.
2. Die Bestimmungen des Art. 1 Nr. 3 Ziff. i in Verbindung mit den Bestimmungen des Art. 7 Abs. 6 und des Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 94/19 in der durch die Richtlinie 2009/14 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung oder einer Vertragsklausel entgegenstehen, wonach eine Einlage bei einem Kreditinstitut, dessen Zahlungen ausgesetzt wurden, erst fällig wird, nachdem die zuständige Behörde die diesem Institut erteilte Bankzulassung widerrufen hat, und unter der Voraussetzung, dass der Einleger ausdrücklich die Auszahlung dieser Einlage verlangt hat. Nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist jedes nationale Gericht, das mit einer Klage auf Ersatz des Schadens befasst ist, der durch die Auszahlung des gesicherten Betrags einer solchen Einlage außerhalb der in Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 94/19 in der durch die Richtlinie 2009/14 geänderten Fassung vorgesehenen Frist verursacht worden sein soll, verpflichtet, diese nationale Regelung oder diese Vertragsklausel bei der Entscheidung über diese Klage unberücksichtigt zu lassen.
3. Art. 17 Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Bankenaufsichtsbehörde), zur Änderung des Beschlusses Nr. 716/2009/EG und zur Aufhebung des Beschlusses 2009/78/EG der Kommission ist im Licht des 27. Erwägungsgrundes dieser Verordnung dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht eine Empfehlung der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde, die auf der Grundlage dieser Bestimmung erlassen wurde, berücksichtigen muss, um den bei ihm anhängigen Rechtsstreit zu entscheiden, insbesondere im Rahmen einer Klage, mit der die Haftung eines Mitgliedstaats für Schäden festgestellt werden soll, die einem Einzelnen durch die Nichtanwendung oder die nicht ordnungsgemäße oder unzureichende Anwendung des Unionsrechts entstanden sind, die dem Untersuchungsverfahren zugrunde liegt, das zur Annahme dieser Empfehlung geführt hat. Die durch den durch eine solche Empfehlung festgestellten Verstoß gegen das Unionsrecht Geschädigten müssen sich, auch wenn sie nicht Adressaten dieser Empfehlung sind, auf diese stützen können, um vor den zuständigen nationalen Gerichten die Haftung des betreffenden Mitgliedstaats aufgrund des Verstoßes gegen das Unionsrecht feststellen zu lassen.
Die an die Balgarska Narodna Banka (Bulgarische Zentralbank) und den Fond za garantirane na vlogovete v bankite (Fonds für die Sicherung von Bankeinlagen) gerichtete Empfehlung EBA/REC/2014/02 der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde vom 17. Oktober 2014 über die Maßnahmen, die erforderlich sind, um der Richtlinie 94/19/EG nachzukommen, ist ungültig, soweit damit die Entscheidung der Balgarska Narodna Banka (Bulgarische Zentralbank), die Korporativna targovska banka AD unter besondere Aufsicht zu stellen und ihre Verpflichtungen auszusetzen, einer Feststellung der Nichtverfügbarkeit der Einlagen im Sinne von Art. 1 Nr. 3 Ziff. i der Richtlinie 94/19 in der durch die Verordnung 2009/14 geänderten Fassung gleichgestellt wurde.
4. Art. 2 siebter Gedankenstrich der Richtlinie 2001/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. April 2001 über die Sanierung und Liquidation von Kreditinstituten ist im Licht von Art. 17 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass eine Maßnahme der Aussetzung der Zahlungen, die von einer nationalen Zentralbank auf ein Kreditinstitut als Sanierungsmaßnahme angewendet wird, um die finanzielle Lage dieses Instituts zu sichern oder wiederherzustellen, einen ungerechtfertigten und unverhältnismäßigen Eingriff in die Ausübung des Eigentumsrechts der Einleger bei diesem Institut darstellt, wenn sie den Wesensgehalt dieses Rechts nicht achtet und wenn in Anbetracht der unmittelbar drohenden Gefahr finanzieller Verluste, der die Einleger im Fall der Insolvenz dieses Instituts ausgesetzt gewesen wären, mit anderen, weniger einschneidenden Maßnahmen die gleichen Ergebnisse hätten erzielt werden können, was zu prüfen Sache des nationalen Gerichts ist.
5. Das Unionsrecht, insbesondere der Grundsatz der Haftung der Mitgliedstaaten für Schäden, die dem Einzelnen durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht entstanden sind, sowie die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität, ist dahin auszulegen, dass
– es einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die den Anspruch des Einzelnen auf Entschädigung für den ihm infolge eines Verstoßes gegen das Unionsrecht entstandenen Schaden von der vorherigen Nichtigerklärung der dem Schaden zugrunde liegenden Handlung oder Unterlassung der Verwaltung abhängig macht, sofern diese Nichtigerklärung – auch wenn sie für vergleichbare, auf einen Verstoß gegen das nationale Recht gestützte Anträge erforderlich ist – in der Praxis nicht ausgeschlossen oder sehr begrenzt ist;
– einer nationalen Regelung entgegensteht, die den Anspruch des Einzelnen auf Entschädigung für den ihm infolge eines Verstoßes gegen das Unionsrecht entstandenen Schaden von der Voraussetzung der vorsätzlichen Verursachung des Schadens durch die betreffende nationale Behörde abhängig macht;
– es einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die den Anspruch des Einzelnen auf Entschädigung für den ihm infolge eines Verstoßes gegen das Unionsrecht entstandenen Schaden von der Voraussetzung abhängig macht, dass ein tatsächlicher und sicherer Schaden zum Zeitpunkt der Klageerhebung nachgewiesen wird, sofern diese Voraussetzung zum einen nicht ungünstiger ist als die für vergleichbare, auf einen Verstoß gegen das nationale Recht gestützte Anträge geltenden Voraussetzungen und zum anderen nicht so ausgestaltet ist, dass sie die Geltendmachung eines solchen Anspruchs in Anbetracht der Besonderheiten der konkreten Fälle unmöglich macht oder übermäßig erschwert.
6. Die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität sind dahin auszulegen, dass sie ein Gericht, das mit einer Schadensersatzklage befasst ist, die formell auf eine Bestimmung des nationalen Rechts über die Haftung des Staates für aus einer Verwaltungstätigkeit resultierende Schäden gestützt ist, aber zu deren Stützung Klagegründe geltend gemacht werden, mit denen ein Verstoß gegen das Unionsrecht infolge einer solchen Tätigkeit gerügt wird, nicht verpflichten, die Klage von Amts wegen als auf Art. 4 Abs. 3 EUV gestützt einzustufen, sofern dieses Gericht durch die geltenden Bestimmung des nationalen Rechts nicht daran gehindert ist, die Klagegründe, mit denen zur Stützung der Klage ein Verstoß gegen das Unionsrecht gerügt wird, zu prüfen.
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